Ein Erfahrungsbericht mit Liberating Structures
Seit ich im Jahr 2011 die erste Mentorentätigkeit übernommen habe, war es mir ein Anliegen die Nachbesprechung so zu gestalten, dass alle Beteiligten, also ich und die Referendar:in und ggf. noch weitere Personen, auf Augenhöhe und ohne viele Monologe kommunizieren können. Mir war und ist wichtig, dass der Unterricht gemeinsam reflektiert wird und man gemeinsam nach Feed foward, also konkreten Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung und Professionalisierung der Referendar:in, sucht. Seither bin ich auf der Suche nach Möglichkeiten, die mir dies ermöglichen. Im eigenen Referendariat wurde ich bereits mit einem Verfahren konfrontiert, dass ich als wertschätzend empfunden habe, welches mir selbst wenig konkrete Handlungsmuster aufzeigte, die ich zudem möglichst allein, eigenverantwortlich finden sollte. Ich adaptierte vieles davon und ergänzte Methoden aus der Supervision. Damit kam ich zunächst gut zurecht, war aber nicht vollends zufrieden. Auch Methoden aus dem Coaching, die ich testete, verwarf ich spätestens nach Unterrichtsbesuchen bei meiner Bewerbung zum Fachseminarleiter. Mir und auch den mit diesem Nachbesprechungssetting betreuten Praktikant:innen und Referendar:innen gefiel nicht, dass sie kein Feedback von mir bekamen, sondern selbst - von sich aus - nach Verbesserung suchen sollten. Also Feedback musste sein.
Im Landesinstitut arbeitete ich kurz nach meiner Beförderung nach dem Konzept von Schlee. Jeder schreibt dabei positive und verbesserungsfähige Dinge auf farbige Karten. Darüber wird dann gesprochen. Irgendwie gefiel mir das auch nicht so recht, weil es in meiner eigenen Ausbildung ja bereits so gemacht wurde (s.o.). Also probierte ich vieles aus, war aber nie so recht zufrieden. Viele Ideen dazu stammten aus dem Buch Unterricht kompetenzorientiert nachbesprechen von Köhler und Weiß aus dem Jahr 2015.
Im Jahr 2019 entdeckte ich die Liberating Structures und 2020 habe ich begonnen damit meine Seminare zu gestalten. Jetzt, nach dem ich das Buch von Daniel Steinhöfer (2021) gelesen habe, wurde mir die Vorgehensweise deutlicher und ich habe einen String erstellt, der nun in meinen Nachbesprechungen Einsatz finden soll.
Liberating Structures und Strings
Wichtig beim Einsatz von Liberating Structures ist immer ein Purpose, also Sinn und Zweck für den Einsatz. Mein Purpose für die Nachbesprechung ist folgender:
Die Nachbesprechung und die Hospitation existieren, um gemeinsam mit den Referendar:innen und ggf. weiteren Dritten Planung und Durchführung von Unterricht zu reflektieren, Feedback zu geben und gemeinsam nach Feed Forward zu suchen. Das ist wichtig, um die Refendar:innen im Professionalisierungsprozess bestmöglich zu unterstützen.
Kleine Anmerkung: Wichtig in diesem Zusammenhang ist, das "gemeinsam". Alle sind gleichberechtigte Beteiligte und Betroffene. Alle werden gleichermaßen gehört, gesehen und respektiert.
Wenn man den Purpose kennt, überlegt man sich zunächst, welche klassischen Methoden man klassischer Weise nutzen würde. Meist präsentiert die Refenredar:in zunächst ihre Sichtweise auf Planung und Durchführung von Unterricht, dann kommt die Statusrunde: Jede Person erzählt, was sie beim Unterricht gut oder nicht so gut findet. Danach knüpft dann eine Runde offene Diskussion an, die wieder in einer Präsentation endet, in welcher die Referendar:in berichtet, was sie aus dem Gespräch mitnimmt. Je nach Reflexionskompetenz, Extrovertiertheit oder Schlagfertigkeit der Gesprächspartner:innen, wird dann eine Person im Gespräch dominieren; oft ist es die Seminarleitung. So sollte es nicht sein!
Daher zeige ich hier eine Variante auf, wie ich es jetzt mache. Und zwar mit einem String, einer Abfolge von Liberating Structures, die dem Purpose folgen:
Vorgehensweise
Ich beginne mit 6x6-Writing.
Einladung: Wir nehmen uns gemeinsam Zeit eine Reihe von Aussagen zu bestätigen oder zu widerlegen.
Aussagen:
- Die Lernenden haben in dieser Stunde überhaupt nichts gelernt!
- Merkmale guten Unterrichts lassen sich nicht erkennen!
- Weder in der Durchführung noch in der Planung des Unterrichts ging die Lehrkraft auf die Lernenden ein
- Es war kein roter Faden in der Stunde erkennbar!
- Ich könnte mir keine Alternative zu einzelnen Stundenphasen vorstellen!
- Der Unterricht ließ keinerlei soziales Lernen zu!
6 Minuten in Einzelarbeit
- Teilen der Antworten im Wechsel (8 min). Kein Monologisieren zulassen.
- Auswählen der spannendsten, wichtigsten und erstaunlichsten Antworten, unterstreichen, dann die wichtigste Antwort auswählen. (6 Minuten)
Es schließt What? So what? Now what? an
Einladung: Wir wollen hier das Gesagte ein wenig reflektieren und konkrete Maßnahmen zur weiteren professionalisierung herausarbeiten!
- What? Überlegen wir eine Minute: Was ist aufgefallen, was wurde beobachtet? Was ist passiert? Was haben wir gedacht? Aufschreiben (Post-its mit einem Kanban können helfen). Ideen teilen (4 Minuten)
- So What? Überlegen wir eine Minute: Warum ist das für mich wichtig? Welche Annahmen ergeben sich daraus? Aufschreiben! (4 Minuten)
Now What? mit LS 15% Solutions kombiniert.
Einladung: Was kann zur Lösung, Bearbeitung oder Umsetzung dieses wichtigen Problems beitragen, ohne dass Hilfe, Ressourcen oder Erlaubnis eingeholt werden müssen?
- Kurze Erläuterung warum kleine Lösungsschritte sehr wichtig sind. Z.B.: Schmetterlingseffekt, Schneeball kommt ins Rollen (2 min)
- Liste mit 15% Solutions schreiben (3 min). Tipp: Lass hohe Ansprüche und streben nach Perfektion zu Hause!
- Ideen vorstellen je 3 min
- Ideen schärfen. Sind es wirklich Ideen, die sich autonom ohne Hilfe und Ressourcen durchsetzen lassen? Etwa 3 min pro Person)
Ende und abschließende Meta-Reflexion zur Methodik.
Wie gut konnte die Beratung dir helfen? Wie hast du dich im Prozess gefühlt?
Wie gut hat die Methodik zum Purpose gepasst?
Spontane Rückmeldungen von Beteiligten zu diesem Vorgehen:
- 15% Solutions sind genial, weil man dann was hat was man gleich umsetzen kann und was einen sofort dazu anregt tiefer darüber nachzudenken
- Die Einzel-Phase mit Schreibauftrag waren hilfreich, weil man sich so nochmals intensiver mit Planung und Stunde auseinandergesetzt hat.
- Alle Personen hatten gleich viel Sprechzeit. Niemand hat das Gespräch dominiert. Jede Person wurde angehört.
- Struktur hilft sich zu fokussieren.
- Zeitplan wurde exakt eingehalten, kein abschweifen und unnötiges Geschwafel.
- Jede Person durfte ihre Meinung kundtun und diese wurde ernsthaft gewürdigt.
Beteiligte waren Schulleitung, Referendar:innen und ich als Seminarleitung Mathe.
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