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Die Dezentralisierung des Lernens

Über die Rolle von Seminarleitungen in der Zeit der Digitalisierung

Wenn ich etwas lernen muss oder will, dann gehe ich zu einer Lehrperson, an die Uni, in einen Vortrag, einen Workshop, zu einem Trainer, in die Schule etc. Die Vorstellung, etwas zu lernen, ist immer eng an eine Person geknüpft: einen Experten, Wissensvermittler oder eine Lehrerin. Das lernen ist an einen Ort gebunden, zentriert. Sogar zeitlich. Das ist die Vorstellung von Lernen! Oder halt! Sie war es. 


Die Digitalisierung ermöglicht doch ganz andere Formen der Wissensvermittlung und -aufnahme. So wird das autodidaktische Lernen stärker betont. Lernangebote sind nicht mehr überwiegend formeller Natur und über eine Institution geschaffen. Vielmehr tritt der informelle Wissenserwerb in den Vordergrund. Das Internet bietet zahlreiche Möglichkeiten sich selbst zu bilden und Wissen aufzunehmen. Blogs, Webseiten, Video-Portale, Twitter, Instagram, TikTok, Facebook, Pinterest, Streaming-Dienste, Podcasts, Lernplattformen wie Udemy, Khan Academy, Sofatutor usw. bieten zu jedem nur erdenklichen Thema Informationen an. Alle Inhalte sind jedoch nicht wie in einem Buch linear angeordnet, sondern nicht-linear, d.h. man kann zu einem Thema irgendwo beginnen, da es keinen eindeutigen Anfang gibt (hier sei angemerkt, dass kostenpflichtige Portale sehr wohl Lernpfade vorgeben, was dann den linearen Aspekt teilweise zurückbringt).  

Vom ersten Artikel aus gelangt man über Hyperlinks zum nächsten und von dort zum Übernächsten. Ein endloser Informationsfluss, ähnlich dem Twitter-Feed. Es gibt also auch kein Ende mehr. Diese Informationen stehen 24/7 zur Verfügung und das von jedem beliebigen Ort aus. Die Aufnahme von Wissen geschieht nicht mehr ausschließlich zentral zu einer bestimmten Zeit, sondern löst sich von Raum und Zeit - Lernen dezentralisiert sich. 


Ich möchte das am Beispiel von Influencer:innen verdeutlichen. Ich stelle immer wieder fest, dass Referendar:innen und Student:innen, sich Wissen informell aneignen, nämlich beispielsweise bei Instagram oder anderen sozialen Netzwerken. Dort erhalten sie Tipps, Ideen, Hinweise etc., die sie gut oder weniger gut finden und in Ihren Berufsalltag übernehmen. Sie können auf ein viel größeres Wissen und mehr Erfahrung zugreifen, als es Fachleiter, wie ich, jemals haben könnten. Influencer:innen sind mittlerweile auch im Lehrberuf vorhanden und haben Einfluss auf Tausende von Lehrer:innen in Ausbildung. So werden sie in der ersten und zweiten Ausbildungsphase geprägt von Menschen, die sie 1. meist nicht persönlich kennen und 2. die gar nicht an einer Universität arbeiten, eigentlich keine Ausbilder:innen sind. Das sie dadurch viel mehr (nützliches und gelegentlich unnötiges) Wissen mitbringen als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war, sollte deutlich sein. Ich möchte nun anhand einer Frage aufzeigen, dass die Arbeit von Dozenten und Seminarleitern nun umso wichtiger wird und dass es eine neue Art der Gestaltung von Seminaren geben muss. Die Zeit der Seminarleitung in der Rolle des Wissensvermittlers ist vorbei.


Was kann die Aufgabe von Seminarleiter:innen in der Lehrer:innenausbildung sein? Seminarleiter:innen dürfen freilich aus ihren Erfahrungen in Schule und Unterricht berichten, auf Kenntnisse aus den Fachdidaktiken zurückgreifen usw., sich also weiter als Vermittler von Wissen sehen UND: Diese Rolle tritt in den Hintergrund. Die Rolle des Facilitators, des Lernprozessbegleiters ist entscheidend. Seminarleiter:innen müssen das viele, teils möglicherweise unreflektierte aber in jedem Fall vorhandene Wissen und die Erfahrungen der Referendar:innen unbedingt mit einbeziehen. Es stellt nicht nur eine wichtige Ressource da, sondern ist ja zunächst subjektiv geprägt und daher kommt es multiperspektivisch ins Seminar. Dieses Wissen als Resource zu heben ist genauso entscheidend wie die reflektierte und kritische Auseinandersetzung damit und der emphatischen Aushandlung der unterschiedlichen Perspektiven. Und dies gelingt immer noch am besten durch menschliche Interaktion an einem zentralen Ort. Dieser Ort muss in der Ausbildung das Seminar sein. Ein Treffpunkt, ein Knoten, an dem Wissen zusammenkommt, entwirrt, neu zusammengesetzt, ergänzt,  verworfen oder vertieft und angewendet wird. Um das zu erreichen, muss Seminarleitung agil werden. D.h. es steht nicht die Vermittlung von Fachinhalten an erster Stelle, sondern die Teilnehmer:innen mit ihren ganz individuellen Stärken, Interessen etc. Es wird daran angeknüpft und an der Entfaltung und Stärkung der Stärken gearbeitet. Wie? Mit agile Methoden, wie z.B. den Liberating Structures oder den im Buch von Horst Lempart beschrieben Ideen. Auch Design Thinking, Scrum oder Working out loud circles könnten zu diesen Effekten beitragen. Und das tolle daran, man kann als Seminarleitung sein Wissen und seine Erfahrungen immer noch sinnvoll einbringen, nur eben nicht in Vortragsform mit PowerPoint.


Die Dezentralisierung der Wissensaufnahme führt also zu einer notwendigen Zentralisierung der Verarbeitung des Wissens mit echter Begegnung und persönlicher Auseinandersetzung.


Kann man dies auch auf Schule, Unterricht und die Rolle der Lehrkraft beziehen?

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