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Ein flexibles, hybrides Modell für Wechselunterricht in der Oberstufe

 

Ayla aus dem Kurs G28a kommt heute nicht zur Schule. Das teilt sie ihrer Lernbegleitung im morgendlichen Daily Meetup per Videokonferenz mit. Sie trifft sich mit Freundinnen aus anderen Kursen bei ihr daheim. Gemeinsam wollen sie an ihrem Mathe-Projekt arbeiten. Sie bereiten eine Podcast-Episode über ihre Erforschung von Kolams (komplexen geometrischen Kunstformen aus Süd-Indien) und ihren Zusammenhang mit Fibonacci-Zahlen vor. Außerdem wollen Sie noch für das am Ende der Woche anstehende Exit-Ticket in ihrem Leistungskurs Deutsch üben. Die Lernbegleitung notiert sich dies und bietet ihnen bei Fragen an, sich an das Hilfeforum auf der Lernplattform zu wenden. Dann lässt sie die anderen Schüler:innen ihres Kurses im hybriden Meeting von Ihren Tageszielen berichten. Marten, der nur ungern von zu Hause aus arbeitet, hat bisher noch keine richtige Vorstellung, wie sein Schulvormittag aussieht. Daher geht seine Lernbegleiterin später zu ihm und bespricht seine Quartalsziele mit ihm. Daraus leiten die beiden konkrete Ziele für die Woche ab und Marten freut sich, dass er nun weiterlernen kann. Im Rahmen einer fächerübergreifenden Aktivität mit dem Englischunterricht soll er die Geschichte der Sitzverteilung im US-Repräsentantenhaus untersuchen und eine "gerechte Sitzverteilung" der Sitze im Repräsentantenhaus eines Bundesstaates vorschlagen. Er wird sich heute damit beschäftigen, wie genau die Sitze aktuell verteilt werden und recherchiert dazu mit seinem Kumpel Hamza. Sie treffen sich zur Recherche in den Stillarbeitsräumen der Schule und setzen sich an einen der freien Computer. Hamza nimmt für die Recherche sein Tablet.

 

Am Ende des Schultages berichtet Ayla im hybriden Daily Debriefing davon, dass sie heute ihre Podcast-Folge aufgenommen und auf der Lernplattform zur Peer-Review freigegeben haben. Marten und Hamza sind ebenfalls sehr glücklich über den Verlauf des Tages. Sie konnten über soziale Netzwerke Kontakt zu einem US-Politiker aufnehmen und ihn in einer Expertenbefragung zur Sitzverteilung interviewen.

 

So könnte es aussehen, wenn hybride Arbeitsweisen in die Oberstufe einfließen, wenn Wechselunterricht (einige Schüler:innen sind zu Hause, andere vor Ort in der Schule) zum Alltag gehört. Wenn es eine flexibilisierte Oberstufe gibt, bei der starre Strukturen wie das bekannte alle Lernen, am gleichen Ort, bei der gleichen Lehrkraft, zur gleichen Zeit, mit gleichen Arbeitsmitteln und gleichen Zielen zum gleichen Thema, aufgelöst werden. 

 

 

Dass diese Art des Arbeitens nicht erst 2028 Realität wird, beweist das Projekt "Neue Oberstufe". In der Evangelischen Schule Berlin Zentrum wird bereits Abseits vom Fächerdenken gearbeitet. Hybride Arbeitsformen würden sehr gut in das Gesamtkonzept passen. Wie kann so etwas aussehen? Ich möchte Ihnen liebe Leser:in meine Vision kurz skizzieren, Ihnen die Vorteile darlegen und darstellen, wie eine Umsetzung gelingen kann.

Wechselunterricht, der digitale und hybride Arbeitsweisen mitdenkt, kann - langfristig etabliert -  nicht so aussehen, wie wir es in der Corona-Pandemie nach den Schulschließungen als "Notlösung" betrieben haben. In dieser Zeit wurde z.B. an den meisten Oberstufen so verfahren, dass die Schüler:innen immer im wöchentlichen Wechsel zur Schule kamen, egal ob es zu Hause die elterliche Unterstützung und technische Ausstattung gab oder nicht. Die Schüler:innen daheim bekamen dann je nach Lehrkraft und Schule entweder Selbstlernaufgaben, Übungsaufgaben als PDF oder sollten Themen wiederholen. In günstigen Fällen wurden digitale Lernpfade erstellt, die Schüler:innen sollten Blogartikel schreiben, eBooks erstellen, Videos drehen - eben jene Dinge tun, die dazu auffordern, Ihr Lernen sichtbar für andere zu machen; und das über digitale Medien, um den Austausch auf der Lernplattform der Schule oder einer digitalen Pinnwand möglich zu machen. Schüler:innen konnten bei einigen Lehrkräften auch virtuell mit den anderen zugeschaltet werden und so z.B. in einem Video-Stream am Unterricht teilhaben oder in Breakout-Räumen miteinander lernen. Die von mir zuletzt genannten digitalen Formen des Unterrichts schaffen neue Wege, die eine Flexibilisierung und Individualisierung der Oberstufe und damit eine Anpassung an moderne Arbeitsweisen in der Wirtschaft ermöglichen.

 

Der klassische Ablauf von Schule muss dafür jedoch aufgebrochen werden. Im Frühjahr 2020 formulierte ich "neun Leitwerte für den Distanzunterricht" (Kantereit 2020a) aus denen ich später im Mai 2020 "sechs Leitwerte für den Hybridunterricht" entwickelte (Kantereit 2020b). Diese Leitwerte können als Wegweiser dienen, den Unterricht der Oberstufe mit einem Wechsel-Hybrid-Modell neu zu gestalten:

 

Daily Meetups zu Tagesbeginn dienen als Energizer, zur Kontrolle der Anwesenheit (auch derer, die Online von zu Hause aus zugeschaltet sind) und zur Planung des Tages bzw. der Woche. Die Schüler:innen arbeiten in Teams von 3-5 Personen die ihren Lernzirkel definieren. Natürlich lernt jede Schüler:in für sich, aber der Zirkel soll beim eigenständigen Arbeiten Unterstützung bieten (analog zu LernOS, Communities of Practice oder Working Out Loud, Peer-Learning-Formaten, die in der Wirtschaft genutzt werden). Die Schüler:innen bekommen ihre Aufgaben, Lernpfade etc. über die Lernplattform gestellt. Jeden Tag haben die Schüler:innen die Möglichkeit bei ihren Lehrkräften Gesprächstermine in den Sprechzeiten über die Lernplattform zu buchen. Genauso können die Lehrkräfte Termine mit den Schüler:innen festlegen, um zum Beispiel mit ihnen Experimente aus der Physik oder Chemie durchzuführen oder Ihnen einen schwierigen Inhalt durch direkte Instruktion zu präsentieren. Alle drei Monate gilt es die Ergebnisse aus einem gewählten Schwerpunktthema, an dem sie in dieser Zeit gearbeitet haben zu präsentieren. Das passiert in Rahmen von Open Spaces (auch Unkonferenz oder Barcamp) mit der gesamten Oberstufe. Den Lernweg bis zu diesem Ereignis dokumentieren sie in Form von Blogbeiträgen, Newslettern, Podcast-Episoden oder Vlogs. Dies ermöglicht es den Lehrkräften sie auf diesem Weg zu begleiten und zu unterstützen. Zusätzlich müssen die Schüler:innen in den Prüfungsfächern jede Woche ein Exit-Ticket ziehen. Das bedeutet, dass sie eine kleine Aufgabe zur Reflexion, einen Test oder ähnliches am Ende der Woche schreiben, der ihnen anzeigt, wie gut sie ein Thema bereits verstanden haben. Die Fächer wechseln wöchentlich. Der Sportunterricht findet, wie auch der Physik- und Chemieunterricht (wenn Versuche oder Experimente anstehen) überwiegend in Präsenz statt. Gelegentlich können sportliche Aktivitäten oder Sporttheorie aber auch von daheim durchgeführt, bzw. erarbeitet werden.

Die Schule nutzt die bestehende Raumstruktur anders. Es gibt nun keine Kursräume (außer die Physik- und Chemielabore, sowie Kunst- und Musikräume) mehr, sondern die Räume sind nach Funktionen aufgeteilt. So gibt es Stillarbeitsräume mit Einzelarbeitsplätzen und Räume für frontale Phasen, sowie Räume für Kommunikation und Kollaboration. Eine Videokonferensoftware ist auf allen Schüler:innengeräten installiert, so dass auch Schüler:innen, die nicht in der Schule arbeiten kontaktiert werden können.

 

Meine Vorstellung von Wechselunterricht ist - verbunden mit digitalen Arbeitsweisen - eine grundsätzlich andere als die bisher aus der Pandemie-Zeit bekannte Form des Wechselunterrichts. Sie geht von einer veränderten Lernkultur aus, die die Kultur der Digitalität (Stalder 2016) akzeptiert. Zeitgemäßes Lernen ist für mich agiles, selbstgesteuertes, kollaboratives Lernen, d.h. der Unterricht... 

  •   ...ermöglicht Selbstorganisation und Mitbestimmung der Lernenden
  • ...setzt auf beziehungsreiches Lernen in Teams und Netzwerken
  • ...bietet Gelegenheit Vielfalt wertzuschätzen und zu nutzen
  • ...ermöglicht Sinnstiftung 
  • ...baut auf eine positive Fehlerkultur
  • ...bietet herausfordernde offene Lernsettings

Die Forderungen nach einer Veränderung der Art des Lernens und Leistens in Schule sind in ähnlicher Form auch im Lernkompass 2030 (OECD 2030) dargelegt. Darin liegt auch die Forderung nach Wohlergehen, Nachhaltigkeit und lebenslangem Lernen.  Die oben skizzierte Form des Wechselunterrichts mit hybriden Lernsettings* in der Oberstufe kann diese in Forderungen in weiten Teilen erfüllen. Daher freue ich mich, wenn mehr Schulen diesen Weg mit ihren Oberstufen beschreiten und sich (miteinander) für eine veränderte Lernkultur stark machen.

 

 

* Mehr zu hybriden Lernsettings hier: https://youtu.be/0vK2ihYdJxE und https://www.youtube.com/watch?v=eGjzCyUL5eQ

 

 

Literatur

 

Die angesprochenen Inhalte dieses Textes stelle ich auch hier nochmals in Video-Form vor:


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