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Zum Umgang mit Komplexität im Kontext Schule

Gedanken zur aktuellen Situation des Bildungssystems und was wir jetzt tun können

Schüler:innen werden wie Waschmaschinen behandelt. Es gibt klare Anleitungen, wie diese zu bedienen sind.  Wir versuchen durch Planung, deren Reaktionen bis ins letzte vorauszusehen. All das im Namen der Effizienz*. Das hat sogar einen Begriff: Guter Unterricht

 

Wir wundern uns jedoch, wenn die Schüler:innen nicht reagieren wie gewünscht, suchen im besten Falle den Fehler in der Planung, in den meisten Fällen jedoch bei den Schüler:innen. Um also die Güte ihrer Reaktionen mit der geplanten abzugleichen, bewerten wir Schüler:innen. Die, die nach Plan funktionieren, sind „sehr gute“ Schüler:innen, dann gibt es welche bei denen funktioniert nicht alles, aber OK. Ein kleinerer bis mittlerer Anteil reagiert ganz anders und folglich nicht planungskonform und wird dann als ungehobelt, frech, unverschämt oder schlecht eingestuft. Wir versuchen dann Ordnung durch Benotung, Bestrafung oder Belohnung herzustellen. 


Der Fehler liegt aber nicht bei den Schüler:innen, auch nicht bei der Lehrkraft, wie man vermuten könnte. Vielmehr ist es ein gesellschaftlicher. Wir denken in linearen Mustern. Ursache-Wirkung. Suchen nach Gründen. Wir versuchen mit Kontrolle und klaren Strukturen Ordnung zu schaffen. Iatrogenik ist ein passender Begriff. Wir wollen gutes Tun, aber es kehrt sich ins Negative um. Denn was wir nicht berücksichtigen ist, dass wir bei Erziehung und Ausbildung mit Menschen arbeiten. Und die verhalten sich komplex, vieles ist vom Zufall abhängig und unberechenbar. Wenn wir mit bekannten Strategien an komplizierte Probleme herangehen, funktioniert das gut, aber diese Strategien können wir nicht in komplexen Situationen - wie dem Umgang mit Menschen - anwenden. 


„Schüler:innen werden wie Waschmaschinen behandelt.“


Wie oben bereits geschrieben, versuchen wir Planungsfehler wiederum durch Strategien aus der komplizierten Domäne auszugleichen, nämlich durch Motivationsversuche, Belohnungen und Bestrafung - Mich stört es immer wieder, wenn ich an Klassenräumen vorbeigehe und höre, dass drinnen eine Schüler:in angeschrien wird und für ihr Verhalten einen Tadel erhält. Als ob man durch Zwang und Druck Menschen zu irgendetwas führen könnte. Das was höchstwahrscheinlich passiert, ist, dass diese Schüler:in beim nächsten Tadel überreagiert, weil der menschliche Körper auf Stressoren mit Überkompensation reagiert und sich im Falle einer erneuten Konfrontation stärker gegen diesen Stressor behauptet**. Man sieht dass Belohnung, Bestrafung ebenfalls zu nicht-linearen, also eben jenen unvorhersehbaren Reaktionen führen. 

Manchmal kommt man dann in einen Teufelskreis. Wer kennt nicht diese eine Schüler:in, die immer wieder „auffällig“ wird, die Maßnahmenkonferenz an Maßnahmenkonferenz erträgt, um letztlich von der Schule zu „fliegen“ oder als unbeschulbar eingestuft wird. Gescheitert in einem System, dass versucht mit Strategien aus der komplizierten Domäne, komplexe Aufgaben zu lösen. Eben jenem System, dass nach außen die Illusion wahren will, dass sich jede Person in ihr wohlfühlen soll. 


Wohlfühlen ist ein gutes Stichwort. Neuerdings wird vom Well-Being gesprochen (OECD Lernkompass 2030). Jede:r hat als Ziel, das Wohlergehen der einzelnen und der Gesellschaft zu erreichen und zu erhalten. Schule wird nicht isoliert als Ort der Ausbildung betrachtet, sondern systemisch eingebettet in das komplexe Gefüge Schule, Elternhaus, Schulumfeld, Nachbarschaft, Stadtteil etc. Alle Personen im Umfeld einer Schüler:in bilden eine Co-Agency und unterstützen sie dabei, dieses Ziel zu erreichen.  Dieser Ansatz (einer unter vielen Lösungsvorschlägen für eine Reform) zeigt, dass wir (in diesem Fall Personen der OECD) einen systemischen Ansatz verfolgen, also beginnen komplexe Lösungen zu suchen. 

Wie gelingt das umdenken, weg von Strategien des linearen Denkens (der komplizierten Domäne), hin zu nicht-linearen Strategien (komplexe Domäne)? Und wie sehen komplexe Lösungsstrategien aus? Wie können Lehrer:innen in komplexen Situationen handeln? Sind Didaktik und Pädagogik zu verteufeln?

 

Ich will mögliche Antworten geben und bitte zu bedenken, dass im komplexen Umfeld dies nur Lösungen neben weiteren möglichen Lösungen sind. Es gibt keine „beste“ Lösung. 


Der Reihe nach! Wir beginnen mit einer kleinen Gegenüberstellung. Zu klären ist zunächst was ich mit linearem und nicht-linearem Denken meine, bzw. was die komplizierte Domäne im Kontext Schule ausmacht und was zur komplexen Domäne gehört. Wir halten fest: Unterricht und Erziehung von Kindern und letztlich der Umgang mit Menschengruppen ist komplex. Um komplexe Aufgaben anzugehen greifen wir aktuell auf Problemlösestrategien aus der komplizierten Domäne zurück.


„Jede:r hat als Ziel, das Wohlergehen der einzelnen und der Gesellschaft zu erreichen und zu erhalten.“


Die Tabelle zeigt eine sicherlich (noch) nicht vollständige Gegenüberstellung, verdeutlicht aber vielleicht was ich meine.

 

Komplizierte Domäne

Komplexe Domäne

Kontrolle ausüben

Selbstorganisation ermöglichen 

Hierarchie nutzen, Rollenklarheit

Beziehungen und Netzwerke nutzen 

Entscheidungen werden von wenigen getroffen und durchgesetzt

An Entscheidungen werden alle Betroffenen beteiligt

Feste Strukturen aufbauen

Kleine, immer wieder wechselnde Gruppierungen bilden

Planung 

Testen und anpassen

Fehler vermeiden

Kleine Fehler machen und daraus lernen

Suche nach bester Lösung

Akzeptanz verschiedener Lösungen, Sinnstiftung

Vereinfachen und kategorisieren

Vielfalt zu lassen

 

 

Die Strategie in der komplizierten Domäne (lineares Denken) sind langfristig, gut durchdachte, Eventualitäten abschätzende, Zufälle ausschließende Analyse und Planung. Man sucht immer nach der besten Lösung. Man will den besten Unterricht ermöglichen, man sucht Entscheidungen, die möglichst viele zufriedenstellen. Fehler sind Ergebnis mangelhafter Planung und sollten vermieden werden. Damit möglichst keine Fehler passieren, ist es wichtig, den Handlungsprozess, z.B. die Durchführung von Unterricht, zu kontrollieren. Man muss alles „im Griff“ haben, damit nichts unvorhersehbares passiert. Wer kennt nicht den Spruch: „Die Lehrkraft ist Kapitän:in! Die Schüler:innen die Besatzung.“ Mein Mathelehrer hatte immer gesagt: „Es gibt die kleinen und die großen Hunde. Und die kleinen gehorchen den großen.“ Was hier verniedlichend angesprochen wird, ist Hierarchie. Um Kontrolle auszuüben und Entscheidungen zu treffen, muss klar sein, wer über wen Kontrolle hat, wer Verantwortung trägt. Jede Person hat eine klar definierte Rolle. Das ist wichtig, um Unvorherrsehbarkeit zu minimieren - es muss alles glatt laufen. Bitte keine Fehler. Wenn doch Fehler passieren - und das lässt sich bei der künstlichen Glättung von Volatilität durch bestmögliche Planung und Entscheidungsfindung nicht verhindern - sind es zumeist Fehler größerer Art (Mobbing, Leistungsverweigerung, Schüler:innen prügeln sich im Unterricht, beleidigen die Lehrkraft, Verhalten sich Rüpelhaft, schwänzen Unterricht u.ä.). Derartige Fehler zerstören Unterricht vollständig und darüberhinaus vor allem das Beziehungsgefüge***.

 

Und: Gute Beziehungen sind das Wichtigste. Punkt. 

 

Ok, so ungeklärt will ich das nicht stehen lassen. Wenn wir nicht-linear denken, denken wir systemisch. Alles und jede:r ist mit allem und jeder verbunden. Wie ein organisches Gebilde. Wie in einem Netzwerk. Und Störungen des Netzwerks an der einen Stelle beeinflusst auch alle anderen im Netzwerk. Nutzen wir also zukünftig Netzwerke und Beziehungen und lassen Rollenzuschreibung und Hierarchie außen vor. Das geht dann einher mit der Abgabe von Kontrolle. Anstelle von Kontrolle sollten wir Selbstorganisation ermöglichen. Das heißt auch, Mitbestimmung zulassen, dass wir an Entscheidungen alle Betroffenen beteiligen und kleine, wechselnde Gruppierungen bilden sowie feste Strukturen (wie Klassen, feste Arbeitsräume etc.) einreißen. Wenn wir Selbstorganisation den Vorzug geben, müssen wir auch Fehler zulassen, also Trial and Error nutzen. Die übergeordnete Strategie der komplexen Domäne ist ausprobieren - anpassen - reagieren. Also lassen wir viele Fehler zu, damit jede:r daraus lernen kann. Selbstorganisation erfordert weiterhin, dass es nicht die „eine, beste“ Lösung für ein Problem gibt, sondern viele parallel entstandene Lösungen. Aber keine Sorge, die Lösungen, die von wenigen als sinnhaft erlebt werden oder die nicht gut funktionieren, verschwinden auch von selbst wieder, weil sie keine Person weiterverfolgen wird. 


„Anstelle von Kontrolle sollten wir Selbstorganisation ermöglichen“


Fassen wir kurz zusammen: Wir konnten klären, was Strategien aus der komplizierten und der komplexen Domäne, also aus linearen und komplexen Denkmustern sind und dass sie sich grundlegend unterscheiden. Kurz: Ausprobieren, anpassen, reagieren in kurzen Zyklen mit kleinen Fehlerkorrekturen. 

Vielleicht konnte ich Sie überzeugen, warum wir einen Wechsel der Denkmuster brauchen. Falls nicht, möchte ich gerne noch eine Tatsache anfügen. In den USA haben Studien ergeben, dass People of Colour im Mathematikunterricht signifikant schlechter abschneiden als ihre Mitschüler:innen. Das liegt zum einen daran, dass Mathematiklehrkräfte den in ihrer eigenen Ausbildung selbst erlebten Unterricht in ihre Berufspraxis übertragen. Sprich, es genauso machen wie ihre Vorgänger:innen. Zum anderen liegt es an der Art Mathematik zu unterrichten. Oft wird mit Aufgaben mit eindeutiger Lösung gearbeitet, nicht sprachsensibel unterrichtet und die einzelnen Bereiche sind linear und sequenziell aufgebaut. Darüber hinaus wird Schüler:innen zumeist nur ein Lernweg aufgezeigt und vorgemacht, den sie dann nachmachen sollen. Und letztlich schaden auch Kontrolle und Bewertung. Diese Tatsachen stärken white supremacy im Mathematikunterricht, benachteiligt also PoC. Sie sehen, es gibt starke Überschneidungen, mit dem was ich zu linearem und nicht-linearem  Denken formuliert habe.


Kommen wir nun zu ein wenig Praxis. Wie können wir dann unterrichten? Was ist eine 15% Lösung, also eine sofort und ohne Ressourcen und Hilfe umsetzbare Lösung? 

 

Mein Vorschlag: Nutzen Sie 1-2-4-alle, manchem auch als Think-Pair-Square-Share bekannt. Nutzen Sie es beispielsweise immer dann, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen. Oder zum Lösen einer Aufgabe. Lassen sie 1 Minute Zeit zum Nachdenken und notieren, welche Ideen die Schüler:innen zur Lösung einer Aufgabe haben. Lassen Sie sie sich zu zweit 2 Minuten darüber austauschen. Dann 4 Minuten lang zu viert. Am Ende werden im Plenum die Ideen gesammelt. Sollte die Zeit zu knapp gewesen sein und nur wenige Ideen entstanden sein, können Sie einfach noch eine Runde 1-2-4-alle dranhängen. Halten Sie die Schritte kurz und geben Sie gegebenenfalls Gelegenheit zur Iteration. Zyklisch arbeiten!

Kombinieren Sie diese Vorgehensweise zum Beispiel auch mit offenen Aufgaben, um möglichst viele Lösungsideen zu sammeln. Oder erweitern Sie um eine gemeinsame längere Diskussionsphase. Hier bietet sich zum Beispiel das Conversation Café an. Ich skizziere mal den Ablauf für eine Aufgabe im Mathematikunterricht.


Das Conversation Café im Mathematikunterricht 


Ziel: Ein gemeinsames Verständnis der Aufgabe entwickeln und so zu Lösungswegen eigenständig gelangen. 

Kompetenzen: Argumentieren und Begründen, Kommunizieren, Problemlösen

 

Personen: 5-7 

 

Material: Gruppentisch mit Flipchart um Lösungsansätze aufzuschreiben, Redeobjekt

 

  • Lassen Sie die Schüler:innen die Aufgabe zunächst 5 Minuten lang alleine lösen. (Problem erkunden). Als vorbereitende HA denkbar
  • Stellen Sie das Problem/ die Aufgabe nochmals kurz vor. 
  • 1. Runde: Jede Schüler:in erzählt zunächst, wie sie die Aufgabe lösen würde oder was sie beim bearbeiten der Aufgabe gedacht, gefühlt hat und gibt das Redeobjekt weiter. (1 Min pro Schüler:in) (7 Min)
  • 2. Runde: Wie 1. Runde, aber Ideen aus der ersten Runde dürfen aufgegriffen werden und weitergeführt werden. (7 min)
  • 3. Runde: Freie Diskussion über die Aufgabe (10-15 Minuten). Optional: Redeobjekt verwenden
  • 4. Runde: Jede Schüler:in erzählt welche Aha-Momente und weitere Fragen sie aus den Runden mitnimmt.(7 min)
  • Aufgabe alleine lösen bzw. Lösung sauber formulieren lassen. 

 

Regeln für die Gesprächsrunden

  • Versucht so gut ihr könnt, Gesagtes nicht zu bewerten
  • Respektiert einander
  • Versucht zu verstehen statt zu überzeugen
  • Begrüßt und wertschätzt verschiedene Meinungen
  • Sprecht eure Gefühle immer ehrlich aus.  

 

Weitere Methoden findet man bei den Liberating Structures, sogenannte Mikrostrukturen, die alle Teilnehmenden zu Beteiligten machen.


Kommen wir nun zum Grand Finale: Didaktik verteufeln, ja oder nein?

 

Die Frage allein schreit schon nach Linearität. Wie gesagt im komplexen gibt es keine eindeutige, keine beste Lösung. Bei Didaktik, also der Kunst des Lehrens, müssen wir unterscheiden zwischen der Plandidaktik (linear) und der Agilen Didaktik (nicht-linear). Beide Co-existieren auf einem Kontinuum (Achtung auch ich bediene mich noch häufig dem linearen Denken. Es macht deutlich wohin es gehen soll). Plandidaktik auf der einen, Agile Didaktik auf der anderen Seite****.

 

Plandidaktik ist je nach Fach natürlich ein bisschen anders, aber im Grunde sind es Lösungen aus der komplizierten Domäne. Es wird geforscht, evaluiert, studiert um der Frage nachzugehen: wie Lehre ich Mathematik, Deutsch, Englisch usw. Dabei werden Pläne ausgearbeitet, Aufgaben konstruiert in Bücher gepresst, neuerdings auch in Lehrvideos, Tutorials etc. Es werden Pläne geschmiedet, wie Diagnostik funktioniert, wie wir gerade jetzt nach Corona Lernlücken identifizieren und schließen können. Letztlich geht es um die Frage nach dem guten, oder sogar besten Unterricht. Manche Didaktiker:in wird jetzt sicherlich aufschreien, bei meiner saloppen Beschreibung ihres Berufsfeldes (Sorry!). Was soll ich sagen? Ich finde, sie haben alle Lösungen anzubieten, die funktionieren. Jede:r kann sich daran bedienen und wird Anleitungen an die Hand bekommen, die funktionieren. Auch weil sie durch Evidenz und Evaluation gestützt sind. Es wurde getüftelt und ausprobiert, was geht und was nicht. Wow, genauso soll es doch sein, im komplexen Raum! Wir verkennen aber, dass alle Lösungen co-existieren, das keine die beste Lösung ist. Irgendwie sucht man ja gerade als Lehrkraft immer nach Patentrezepten, findet was und übernimmt es und stellt dann fest, dass es ja doch nicht so gut in der Lerngruppe funktioniert (Das mag dem oder der einen Leser:in dieses Textes auch so gehen. Bitte bedenken Sie, dass ich auch nur eine Lösung unter vielen aufzeige, aber vielleicht ja für Sie sinnstiftend darstelle). Lange Rede, kurzer Sinn. Es gibt viele Lösungen, Handreichungen, Anleitungen (oder wie auch immer Sie sie nennen wollen) und keine ist die Beste! Sie bieten aber gute Ausgangspunkte, um in den Unterricht einzusteigen. Irgendwo muss man ja anfangen. Und dann kommt die Agile Didaktik ins Spiel. Ja, sie drängt sich quasi auf! Weil die besten Handreichungen irgendwann versagen, man selbst ins tüfteln kommt, Anpassungen vornimmt und schon mittendrin ist. Aber warum sollten Sie als Lehrkraft oder Dozent:in alle Entscheidungen, alle Planung, alle Inhalte etc. selbst treffen und auswählen. Mitbestimmung ist das Zauberwort! Agile Didaktik ist es, wenn die Lernenden wichtiger sind als der Plan. (O-Ton Christof Arn). Gestalten Sie gemeinsam MIT den Lernenden, lassen Sie ihnen Freiraum, stellen Sie komplexe offene Aufgaben und unterstützen Sie sie bei der Bewältigung, ohne alle Schritte bis ins kleinste durchzuplanen. Lassen Sie sie Fehler machen, arbeiten sie in kurzen Zyklen, wie beim Scrum, damit sie Fehler berichtigen können, geben Sie ihnen die Möglichkeit sich selbst zu managen, selbstverantwortlich zu handeln und haben Sie Spaß dabei zu sehen, welche großartige Wirkung sich entfaltet.

 

Ok, das war jetzt sehr pathetisch gesprochen. Ich bin ins Schwärmen gekommen. Aber so kann es sich entfalten. Fangen Sie klein an, nehmen Sie 1-2-4-alle als Grundpfeiler. Bauen Sie ein paar Liberating Structures ein, meinetwegen lesen sie noch ein paar Bücher wie „Agilität und Bildung“ und machen Sie das Wichtigste: Ausprobieren, anpassen, reagieren. Und das am besten zusammen mit Ihren Schüler:innen, Kolleg:innen, Ihren Ausbilder:innen, Ihren Mentor:innen oder mit Freund:innen. 

 

Ich habe fertig!


„das Wichtigste: Ausprobieren, anpassen, reagieren“


Ne ne, so leicht kommen Sie hier nicht weg. Einen Blick auf Leistungsbewertung und Notengebung muss schon noch sein. Wie soll das gehen ohne Kontrolle und fehlende eindeutige Lösungen bei offenen komplexen Aufgaben? Ich kenne da mindestens zwei Personen (Grüße in die Schweiz und nach Berlin), die haben passende, mir sinnvoll erscheinende Lösungen. Schauen Sie doch mal bei Twitter unter dem Hashtag #notenade. Und, hier von mir kleine 15% Lösungen: 

 

  1. Peer-Feedback: Führen Sie Retrospektiven ein, bei denen sich die Lernenden untereinander Feedback und Hilfe geben. Eine passende Liberating Structure wäre dazu Wise Crowds. Arbeiten Sie mit Blogs oder ePortfolios in denen die Lernenden Reflexionsaufgaben  bekommen und Ihren Lernweg dokumentieren. 
  2. Lassen Sie mit 1-2-4-alle die Lernenden jeweils 5 Kriterien erarbeiten, von denen sie meinen, dass sie wichtig sind. Z.B. Meldeverhalten, Qualität der Beiträge, Störungen, Aufmerksamkeit, Qualität von Lernprodukten, Hausaufgaben, Teamarbeit, Mitarbeit. Lassen Sie die Schüler:innen sich auf einer Skala von 0-5 darauf selbst einschätzen. Fordern Sie Begründung ein, z.B. schriftlich oder per Audio. Nutzen Sie dafür Satzanfänge: Im Bereich… sehe ich nicht auf Stufe…, weil… Insgesamt ergibt sich daher für mich eine Leistung mit der Note…Oder sprechen Sie über Noten erst am Ende eines Halbjahres. 
  3. Nutzen Sie Exit-Tickets: Stellen Sie am Ende der Woche kleine Aufgaben, die die Schüler:innen mit einer bestimmten Punktzahl abschließen müssen, die sie aber mehrmals durchführen können.

Und zum Abschluss, bevor sie jetzt glücksbeseelt vom Text oder vor Ärger schäumend Ihr Tablet weglegen oder Ihre Kritik in die Kommentare kritzeln, stellen Sie sich eine Frage: Was würden Ihre Lernenden verpassen, wenn Sie nicht so arbeiten würden, wie ich es skizziert habe?


Fußnoten

* Taleb schrieb dazu in seinem Buch „Antifragilität - eine Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ allgemeiner, dass Menschen wie Waschmaschinen behandelt werden. Ich glaube, dass Talebs Sichtweise ohne Probleme auf die Situation der Schüler:innen übertragen werden kann.

 

** Eine kleine Anmerkung: Ja auch dieses Beispiel ist ziemlich linear gedacht. Es kann eben auch anders kommen. Die Reaktion der Schüler:in ist auf jeden Fall vom Zufall abhängig. Gepaart mit ein paar Faktoren, z.B. spielt das vorhergehende Verhältnis von Lehrkraft und Schüler:in eine große Rolle. Wenn es gut ist, also von Wertschätzung geprägt, dann kann auch ein „Anschiss“ verziehen werden. Es ist manchmal sogar so, dass im Falle einen kurzen, lauten und prägnanten Ansprache, Adrenalin im Körper der Schüler:in ausgeschüttet worden, so dass sie für einen kleinen Zeitraum wieder vollkonzentriert mitarbeiten kann. Man sieht, es gibt nicht ein Ursache-Wirkungsgefüge sondern eine nicht-lineare Reaktion. Eben weil menschliche Beziehungen ebenfalls komplex sind.

 

*** Ich habe hier noch nicht die extremsten Fälle beschrieben. Es geht noch schlimmer. Was ich zeigen will, ist, dass Kontrolle und Unterbindung von Zufälligkeiten zwar kleinere Fehler verhindert (also z.B. zur viel genannten „guten“ Klassenführung (Die Lehrkraft hat alles im Griff) beiträgt), aber letztlich zu einem Fehler größerer Art führen kann, der dann zerstörerische Folgen haben kann.

 

**** Die Idee beide Didaktiken auf Enden einer Skala zu setzen stammt von meinem geschätzten Bekannten Christof Arn, der den Begriff Agile Didaktik vor allem im Hochschulkontext entscheidend geprägt hat.

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