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Die Kunst des Nichtstuns - Oder: Agile Seminargestaltung

Ein bisschen so wie Nichtstun fühlt es sich manchmal an, wenn ich am Fenster des Seminarraumes stehe und ein wenig den Blick schweifen lassen über die Skyline der Stadt. Gespannt lausche ich dabei den Gesprächen im Hintergrund. Ich kann immer dann besonders gut zu hören, wenn ich meinen Blick dabei wandern lassen kann. Ich habe aktuell kein schlechtes Gefühl bei diesem Nichtstun, sondern ein sehr freudiges. Beflügelt dadurch, dass so eine positive, von deutlich sichtbarer Kollaboration geprägte Atmosphäre herrscht. Da darf man sich mal ganz drauf einlassen und auch selbst mal nichts mehr tun. Der Rahmen ist ja deutlich gesteckt. 


Wovon ich spreche? So sieht und fühlt es sich an, wenn ich ein Seminar gebe. Ein wenig hin und her gerissen zwischen Freude und dem Gefühl, doch jetzt eigentlich, vielleicht doch mal irgendwo, irgendwie einzulenken, weil ich sonst ja überflüssig bin. 


Ich glaube aber, genauso muss es sein, wenn man ein Seminar agil gestaltet. Im Vorfeld hat man immer etwas Sorge, ob alles so funktioniert, wie gedacht. Und am Ende ist man überrascht und beglückt, was für tolle Lerngelegenheiten entstanden sind. 


Was soll das bedeuten? Ich will hier mal kurz skizzieren, was ich meine, wenn ein Seminar agil gestaltet ist.

Themenfindung mit Referendar*innen zusammen gestalten

Eines Vorweg: wir haben ein Curriculum für die Ausbildung von Referendar*innen, dass in meinen Fächern klar vorschreibt, welche Themen Ausbildungsrelevant sind. Dennoch höre ich gerne mal hinein in die Gruppe der Refis. Was geistert ihnen so durch den Kopf? Welche aktuellen Herausforderungen stellen sich gerade? Was könnten 10% Lösungen sein? Derartige Abfragen mache ich gern, dabei ist das Wort Abfrage aber eigentlich falsch. Ich versuche auch hier Raum für Kommunikation und Kreativität und kritisches Denken zu geben. Zum Beispiel in dem ich die Methode Hirngespenster von Horst Lempart nutze. Der Frage „Was spukt euch (ja, wir duzen uns) durch den Kopf, wenn ihr an xyz denkt?“ folgend werden auf Methodenkarten, die ich vorher schnell in Form kleiner Geister geschnitten habe, die Gedanken niedergeschrieben. Die Geister sammeln sich danach in einem Spukhaus, an einer Pinnwand. Manchmal ergänzen die Refis noch was an dem Haus, damit es noch spukiger wirkt. Das ermöglicht eine gute Übersicht, die Bedürfnisse der Refis und das Ausbildungscurriculum zu synchronisieren. Wichtig bei allen Methoden, die ich hier beschreibe und durchführe: Es darf und soll gelacht werden! Spaß ist ein wichtiger Motivator. Wichtiger aber noch ist, dass die Personen durch den Spielraum, den sie durch die Methoden bekommen, angeregt, werden, wirklich eigene Verantwortung für ihren Lernprozess nehmen zu können. Das Fördert das „wirklich, wirklich etwas erreichen wollen“ (Frithjof Bergmann).

Aktuelles Seminar: Thema „didaktische Analyse“

An dieser konkreten Sitzung zeige ich mal auf, wie ein Seminar abläuft. Man muss dazu sagen, das an diesem Tag auch neue Refis in die Gruppe der Alten gekommen sind. Die Fachseminare sind sozusagen jahrgangsgemischt. Für ein Seminar stehen immer 2,5 Stunden alle zwei Wochen zur Verfügung.


Ziele: Kennenlernen der neuen Refis und Klärung des Inhalts der didaktischen Analyse.

Ablauf:  


Begonnen habe ich das Seminar mit einer Ankommensrunde: „Bitte beschreibe deine aktuelles Befinden auf einer Skala von 1 bis 10, gerne darfst du es auch noch kurz begründen!“ Jeder kommt kurz zu Wort. Danach ging es ums kennenlernen der neuen Refis. Dazu habe ich mir eine Methode von Horst Lempart gewählt, die er als „Ich mache mir ein Bild von dir“ bezeichnet. Und genau darum geht es. Die Refis haben 10 Minuten Zeit bekommen, jeweils zu zweit sich im Raum zu verteilen und den Partner zu interviewen, um aus diesen Informationen dann ein Porträt von dieser Person zu skizzieren. Die Porträts sammelte ich ein und hing sie als Galerie aus. Dann durften die Refis Vermutungen anstellen, welches Bild zu welcher Person warum gehört. Das sorgte für Heiterkeit und einige Lacher. Die Galerie sah so aus.


Noch bis vor kurzem habe ich immer eine klassische Abfrage in Partnerinterviewform gemacht mit vorgegebenen Fragen. Dann sollte der eine die andere Personen vorstellen. Schon hier zeigt sich der Unterschied. Während ich bei dem Partnerinterview klare Vorgaben habe und dadurch auch schon ein festes Ergebnis kenne, mit dem ich rechnen kann, ist bei „Ich mache mir ein Bild von dir“ nicht klar, welchen Fragen die  Refis nachgehen, wie sie die Darstellung wählen, wie viele Infos sie preisgeben. Mitunter entsteht also ein echtes Gespräch zwischen beiden Teilnehmern mit echtem Interesse. Für mich erfordert dies natürlich, diese Ergebnisse abschließend spontan und eher frei zu moderieren, da ich nicht weiß, was am Ende passieren wird.


Im Anschluss daran, sollten die neuen Refis dann Gelegenheit bekommen, mich kennenzulernen. Dazu nutzte ich die Methode celebrity Interview. Die Refis sollten sich in kleinen Gruppen Fragen an mich überlegen. Ich habe in der Zeit mit Wolldecke oder Jacken und drei Stühlen eine Couch improvisiert und eine kleine Bühne hergerichtet. Mit dem Whiteboard wurde der Titel einer Talkshow eingeblendet und per Bluetooth ein Jingle eingespielt. Ein Refi war Moderator und durfte die gesammelten Fragen über einen Zeitraum von 10 Minuten stellen. Auch hier war der Rahmen klar, aber was innerhalb des Rahmens passierte, konnte ich vorher nur ahnen, aber nicht wissen. Auch hier ist Spontanität gefragt und es entstand etwas Echtes, das was wirklich die Teilnehmer interessierte. Durch die spielerische Art erzeugte es zusätzliche Aufmerksamkeit. In jedem Fall aber mehr als es ein Vortrag getan hätte.


Nach einer kurzen Pause ging es in den Small Talk: „Nehmt euch was zu essen und ein Getränk, sucht euch zu zweit einen Platz im Raum oder auf dem Flur und sprecht über eure Erfahrungen, Fragen, Befürchtungen, Gefühle o.ä., die ihr habt, wenn ihr an die didaktische Analyse im Unterrichtsentwurf denkt“. So war der Impuls für 3 kurze Runden Small Talk mit drei unterschiedlichen Personen. Hier möchte ich kurz darauf verweisen, dass die Referendar*innen für ihre Vorbereitung auf die Sitzung bereits Texte und Beispiele für die didaktische Analyse in Form von Links bekommen haben, um sich darauf vorzubereiten. Außerdem konnten erste Ideen und Fragen in einem ZUMpad zusammengetragen werden.


Während des Small Talks habe ich Tischgruppen zusammengestellt. Auf diesen je 2 Flipcharts und Stifte verteilt. Abschließend zum Smalltalk sollten die Referendar*innen ihre aktuellen Gedanken, Fragen, Ideen, Geistesblitze auf Karten notieren. Diese Karten wurden dann verlesen und von mir eingesammelt.

Ich habe die Methode Conversation Café erläutert und wir haben Moderatoren für die Tische gewählt. Diese haben je ein paar Karten mitbekommen als Impuls für das Gespräch. Darüber hinaus sollte auch das Thema mit einem Filmzitat verknüpft werden. Die anderen Personen haben sich zu den Moderatoren gesetzt und das Café wurde eröffnet. Es wurde etwa 30 Minuten lang diskutiert und geschrieben. Am Ende wurden die Ergebnisse der Gruppen kurz an den Tischen im Stehen präsentiert (Siehe Bilder).

Am Ende wollte ich mit Was? Wofür? was nun? abschließen. Aus zeitlichen Gründen habe ich es verworfen und stattdessen nach den Goldstücken des heutigen Seminars gefragt, welche jede Person in maximal 60 Sekunden mitteilen durfte (siehe Buch von Horst Lempart).

Was ist nun agil und welche Kompetenzen stehen im Fokus?

Vielleicht versteht ihr nun den Titel dieses Eintrags. Ich hatte zeitweise nichts zu tun, musste jedoch auf die verschiedenen Ergebnisse jeweils spontan und flexibel reagieren. Außerdem erlebte ich mich immer wieder in Ungewissheit, welche Ergebnisse wir wohl erhalten würden. Ein ums andere mal hätte ich auch gern in die Gespräche eingegriffen, um sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich bin aber froh, es nicht gemacht zu haben, denn die Refis haben auftretende Unklarheiten, so selbst für sich lösen können. Außerdem macht diese Art der Seminargestaltung deutlich, dass alle für den Ausgang verantwortlich sind und ich nicht als Wissensvermittler in den Vordergrund trete. Wieso ist das wichtig? Ganz einfach, es fordert eine andere Haltung von den Refis. Wenn ich als Vermittler auftrete, stellt sich schnell eine passive Haltung ein, die Refis achten dann sehr genau darauf, wie ich bestimmtes meine und sage und agieren dann danach auch in Unterrichtsbesuchen. Ich will aber vor allem, dass sie eine kritische Haltung einnehmen und dies gelingt vor allem dann, wenn sie in den Austausch treten und die Dinge aushandeln. 


Zu Hause sollen nun die Erkenntnisse im ZUMpad zusammengetragen werden. Daraus entsteht ein Artikel zur didaktischen Analyse, den sie selbst erstellt haben.


Man sieht, dass in dieser Form die Kompetenzen Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken in den Mittelpunkt gestellt sind.


Digitale Medien spielen bei mir auch eine zentrale Rolle, durch den kollaborativen Einsatz von z.B. dem ZUMpad wird a) Vorwissen aktiviert und b) dient es der Sicherung der Ergebnisse. Damit wird das Seminar ein Ort der realen Begegnung, während Dokumentation und Austausch zwischen den Seminaren digital abläuft.

Ausschnitt aus ZUMpad
Ausschnitt aus ZUMpad
Nach dem didaktischen Neuneck Blicke ich mit dieser Seminargestaltung auf mehrere Bereiche, nämlich natürlich auf agile Didaktik, aber auch auf Vertrauen, das Rollenverständnis, die Kollaboration,die Wahlfreiheit bezüglich Methodik und Orientierung durch meine grobe Richtungsvorgabe.
Ausschnitt aus einer Sketchnote zur Haltung in der Seminararbeit in Bezug auf Bildung in der digitalisieren Welt (Didaktisches Neuneck)

Und nun? Was meint ihr?

Was meint ihr? Ist es das, was man unter agiler Seminargestaltung zusammenfassen könnte? Welche Erfahrungen habt ihr? Sehr ihr dieses Vorgehen vielleicht sogar kritisch? Freue mich über Feedback.

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Kommentare: 2
  • #1

    Anna-Maria Schirmer (Dienstag, 03 März 2020 07:37)

    Mir gefällt dieser Ansatz sehr gut. Wenn wir Lehrer*innen nicht üben, unsere Lernprozesse in die Hand zu nehmen, wie sollten wir das dann von unseren Schüler*innen erwarten können. Ich versuche, mit meinen Referendar*innen ähnlich zu arbeiten, mache dabei aber auch die Erfahrung, dass der Schritt vom Austausch eigener Gedanken hin zur intensiven Beschäftigung mit vorhandenen Theorien oft schwerfällt. Kannst du das auch beobachten? Und wie gehst du damit um?

  • #2

    Peter Mohlhausen (Dienstag, 10 März 2020 22:14)

    Hallo Tim,

    mir gefallen viele Ansätze in der Seminargestaltung sehr gut. Ich Frage mich nur warum soviele "Buzzwords" wie "agil" genutzt werden müssen.

    Der Kontext dieses Begriffs ist eigentlich die Informationstechnik und dort werden agile Methoden auch nur dort angewendet wo sie Sinn machen. Es wirkt fast so als wäre Agilität, Scrum oder Kanban eine eierlegenden Wollmichsau. Das sind diese Methoden aber nicht. Frag einfach mal einen Entwickler der mit echten agilen Methoden in einem komplexen verteilten Software Projekt arbeitet. Der wird dir etwas dazu erzählen können.
    Mehr gute Seminarstruktur und weniger Marketing Begriffe fände ich gut.