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Warum es eine (neue) agile Seminardidaktik geben muss (erste Gedanken)

Die Auswirkungen der digitalen Transformation sind zu spüren. Kinder müssen auf die VUCA Welt vorbereitet werden (Bieler 2019).


V - Volatility: Flüchtigkeit

U - Uncertainty: Unsicherheit

C - Complexity: Komplexität

A - Ambiguity: Mehrdeutigkeit


Didaktik als Kunst des Lehrens und Lernens muss auf diese Veränderung reagieren. Wir brauchen keine Lehrer mehr, die ein Wissensmonopol einfordern. Wissen ist für jeden jederzeit an jedem Ort abrufbar. Schülerinnen können ein besseres Detailwissen besitzen als Lehrkräfte. Der Lehrer muss sich als Teil seiner Klasse sehen und ebenfalls lernen, lernen sich auf unterschiedliche Vorrausetzungen der Schüler einzulassen, lernen Schüler in ihren Fragen zu unterstützen und sich darauf einzulassen, lernen sich regelmäßig auszutauschen, zu vernetzten und zu reflektieren.


Lehrer*innen benötigen also Agilität, es braucht eine agile Didaktik (Arn 2017). Inhalte sind permanent verfügbar, es bedarf daher einer Kultur des Lernen wollens. Der Kompass für Agilität (Wynands u.a. 2019, Dubbel u.a. 2019) liefert Möglichkeiten authentisches Lernen zu ermöglichen. Wenn Schüler*innen lernen sollen zusammenzuarbeiten, Eigenverantwortung zu übernehmen, sich selbst zu organisieren und sich gegenseitig Feedback zu geben, sowie sich zu reflektieren, dann müssen das vor allem die Lehrkräfte tun.

Quelle: Dubbel u.a. 2019
Quelle: Dubbel u.a. 2019

Diese müssen daher in der Ausbildung nicht lernen, wie man das System erhält und Unterricht nach bestimmten Mustern strickt, sondern Ihnen muss Vertrauen entgegengebracht werden, sie brauchen verlässliche Partner für die Zusammenarbeit, die nicht im Wettbewerb stehen, statt Bewertung bedarf es Feedback und Reflektion, Fehler sind zulässig und nützlich im Lernprozess und jeder kann sich in Lernschleifen stetig verbessern. 


Damit ließen sich die 10 Merkmale guten Unterrichts unter der Bedingung der Digitalität erreichen (Bieler 2019):

  1. offene Strukturen: Fächerübergreifend, offene Lernräume, jahrgangsübergreifend, Projektarbeiten
  2. Lernzeit: Lernende geben die benötigte Zeit vor, nicht die Inhalte und Strukturen, Lernschleifen sind möglich und willkommen
  3. Lernklima: Lehrende haben kein Wissensmonopol, sie begreifen sich selbst als Lernende und unterstützen. Sie bauen echte Beziehung zu den Lernenden auf, schaffen ein Klima der Wertschätzung, Vertrauen und Zutrauen sind essentiell
  4. inhaltliche Klarheit: Schaffen Klarheit im Lernprozess durch Übersichten (Kanaban, To-Listen, Checklisten, Advance Organizer etc.). Lehrkräfte behalten den Überblick
  5. Kommunikation: Reflexion, Zusammenarbeit, Diskussionen, Präsentationen, Netzwerke schaffen, Working out Loud, etc. 
  6. Methodenvielfalt: Zur Selbstorganisation und selbstständigem Lernen brauchen SuS ein Methodenangebot und Kriterien zur Auswahl.
  7. Individualisierung: Orientierung nicht an einem Muster-Schüler, sondern an den individuellen Bedürfnissen der Lernenden.
  8. Training: Wissen muss angewendet werden. Lernen durch Lehren, Lernen aus und durch Präsentationen, Peer-Tutoring
  9. Formative Leistungsbeurteilung: Keine Noten, Rückmeldung zu Lernprozessen und nicht zum Ergebnis, Reflektion durch ePortfolios, Kollaborative Leistungserbringung z.B. durch Wiki, Padlet, Keynotes, eBooks etc.
  10. Lernräume: Diese müssen der Bedingung des ortsunabhängige Lernens und der Kollaboration und Projektarbeit dienlich sein. Einzelplätze für individuelles Lernen mit Computern sollte es geben. Genauso sind aber auch Gruppentische oder Stehtische für Beratungsgespräche oder kurze Absprachen sinnvoll. Der Lernraum ist auf jeden Fall nicht mehr ausschließlich für frontalen Unterricht herzurichten, sondern muss vielfältige Arbeitsmöglichkeiten zulassen.

Wie können der Kompass und die 10 Merkmale zur Seminarplanung eingesetzt werden?

  1. Es braucht ein Lernziel! Eines das nach Möglichkeit ergebnisoffen ist und vielfältige Wege zum erreichen ermöglicht. Es soll ausserdem klären, warum es überhaupt wichtig ist, dieses zu erreichen (Merkmal 4: inhaltliche Klarheit)
  2. Vertrauen ist die Basis, nicht Kontrolle. Hier greift auch Merkmal 3: Lernklima
  3. Zusammenarbeit statt Wettbewerb! Im Seminar werde ich daher immer wieder auf kollaborative Phasen setzen. Merkmal 5: Kommunikation
  4. Iteration, also das ermöglichen von Lernschleifen bei gleichzeitiger Sichtbarmachung des Lernerfolgs will ich in Zukunft ermöglichen. (Merkmal 2: Lernzeit und Merkmal 9: formative Leistungsbeurteilung) Das Lernen sichtbar machen kann im Seminar zum Beispiel durch den Einsatz von ePortfolios, Padlets, Homepages oder eBooks oder oder oder ermöglicht werden. Die kollaborative Erstellung eines Dokuments bringt auch das gewünschte Training (Merkmal 8) mit sich. Wissen wird nicht nur kennengelernt, sonder kreativ verarbeitet. Eventuell bietet sich auch an, das die Referendar*innen in OpenSpaces oder BarCamps mitwirken. So kann auch Merkmal 7: Individualisierung ermöglicht werden, da sie an eigenen Herausforderungen arbeiten können.
  5. Feedback in allen Formen und auf allen Ebenen (Zierer, Hattie 2016) soll Berücksichtigung finden. Dabei kann die Rückmeldung dank der Iteration auch direkt zu einem verbesserten Ergebnis führen. Es ist daher eine formative Bewertung der summativen vorzuziehen. Dies wird jedoch angesichts der aktuellen Prüfungsordnung sehr schwer. Dafür gestalte ich die Nachbesprechungen der Stunden Kompetenz- und stärkenorientiert. Reflexionen können außerdem an vielen Stellen im Seminar Zugang erhalten. So kann z.B. die Teamarbeit in Sprint retrospektiven reflektiert werden oder die eingesetzten Methoden an sich.  


Für Referendare sollte klar sein, warum Sie etwas bestimmtes im Seminar lernen sollen. In Bremen gibt es die Curricula der Ausbildung aus denen Lerninhalte kompetenzorientiert hervorgehen. Damit sind diese Kompetenzen meist schon wirkungsorientiert, mindestens aber könnensorientiert (vgl. Arn 2017) und damit leicht zu einem „Ziel, das zieht“ umzuformulieren. Ein Beispiel: 


Aus: Lehrer*innen nutzen produktiv fachdidaktische  Konzepte der Gestaltung von  Mathematikunterricht für ihre Unterrichtsarbeit und reflektieren und bewerten sie vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen.


Wird: Lehrer*innen nutzen didaktische Konzepte für die Planung Ihres Unterrichts und bringen diese weiteren Lehramtsanwärterinnen an ihren Schulen zb als Mentor nahe.  


Letztere Zusatzformulierung macht die wirkungsorientierung deutlich. Dieses Ziel ist absolut relevant, aber gleichzeitig offen, da bewusst darauf verzichtet wird, präskriptiv vorzugeben, welche Konzepte genau gelernt werden müssen. Eines oder zwei oder sogar fünf, das ist den Teilnehmern des Seminars überlassen. Auch über die methodische Aneignung ist hier bewusst nichts gesagt, auch diese ist bei agiler Didaktik nicht präskriptiv.

Hier soll den Teilnehmern Vertrauen entgegengebracht werden, inwiefern sie sich selbst organisieren. Man muss sich bewusst machen, dass die Ergebnisse eben so offen sind und dass das gewollt ist, um der Vielfalt der TN zu begegnen und diese zuzulassen, als Quelle auch nutzbar zu machen.

Weitere Gedanken werden dazu sicher noch folgen.

Wie lassen sich diese beiden Elemente für die Unterrichtsplanung der Referendar*innen nutzen?

Auch agiler Unterricht muss in Ansätzen geplant werden. Eine radikal agile Didaktik ist sicher nicht anzustreben, da sie meines Erachtens schnell unüberschaubar wird und in Willkür endet. Der Kompass für agilen Unterricht ist daher ein sinnvolles Instrument. Daran können sich Referendar*innen bei der Planung orientieren. 


  1. Habe ich ein „Ziel, das zieht“? Also ist den Lernenden bewusst, warum sie das Lernen, welche Wirkung es für ihr weiteres Leben hat? Diese Frage muss klar beantwortet werden können.
  2. Plane ich die Möglichkeit ein, das Fehler beim Lernen gemacht werden? Lasse ich diese Fehler zu um Lernschleifen zu generieren und so iteratives Lernen zu ermöglichen?
  3. Traue ich den Lernenden zu, über Lernschritten eigenständig zu entscheiden, sich selbst zu organisieren und lasse ich Vielfalt zu? Ist mein Unterricht derart gestaltet?
  4. Ist mein Unterricht auf Kollaboration ausgelegt oder auf Wettbewerb? Sollen alle das gleiche lernen, damit sie ihre Leistungen später vergleichen können? Oder sollte das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit an dem jeder Lernende seinen möglichen Teil beigetragen hat im Vordergrund stehen?  Im agilen Unterricht unbedingt letzteres. Wie trägt nein Unterricht dazu bei echte Zusammenarbeit mit Kommunikation und vertieftem Verständnis hervorzubringen?
  5. Anstelle von summativer Bewertung sollte Feedback und Reflexion und damit Formative Bewertung treten, die eine Haltung zu lebenslangem Lernen fördert. Lernprozesse sollten daher häufiger reflektiert werden, eine Kultur des Feedbacks aufgebaut werden. Nicht endgültige Ergebnisse stehen im Vordergrund, sondern der Weg dahin. Wie ist mein Unterricht angelegt, damit die Lernenden die Haltung zum lebenslangen Lernen aufbauen. Wie gebe ich Feedback, auf welchen Ebenen (Zierer, Hattie 2016). Wie und wann lasse ich Zeit für Reflexionen?


Dieses sind m.E. die leitenden Fragen für die Planung eines Unterrichts, der einer agilen Didaktik folgt. Und diese gilt es im Planungspapier zu beantworten. Wie genau das aussehen kann, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.





Arn, Christoph (2017): Agile Hochschuldidaktik. Beltz Verlag. eBook Version 

Bieler, Ines (2019): Digitale Didaktik. URL: https://spark.adobe.com/page/PD9TTS2Bg9O6w/

Dubbel, Daniel u.a. (2019): Kompass für Agilität in der Bildung. URL: https://www.inspectandadapt.de/kompass-fuer-agilitaet-in-der-bildung/#.XRWu_MqbGfD). Englisches Original: Wijnands, Willy u.a. (2016): Agile in education compass. URL: https://www.agileineducation.org/

Zierer, Klaus und Hattie, John (2016): Kenne deinen Einfluss! Schneider Hohengehren

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Kommentare: 3
  • #1

    Ines Bieler (Freitag, 28 Juni 2019 22:23)

    Vielen Dank für die Erwähnung. Es freut mich sehr, dass du eine Idee aufgreifen und ausbauen konntest.
    Eine wirklich tolle Umsetzung. Deine Referendar*innen werden eine Menge aus deinem Seminar mitnehmen - nicht als Prüfungsstoff, sondern als Erkenntnisse und vor allem als Haltung für ihr Lehrer*innendasein.
    Eine Ergänzung hätte ich noch zu deinem 5. Punkt: Feedback - Betonung der Bedeutung des P2P-Feedbacks. Diese Art der Rückmeldung "auf Augenhöhe" und nicht als Mittel der Bewertung oder Beurteilung finde ich sehr wichtig. Besonders gut lässt sich dies mit ePortfolios realisieren, wenn Referendar*innen sich gegenseitig Zugänge zu bestimmten Inhalten freigeben und Feedback einfordern.
    Viel Erfolg und Freude bei der Umsetzung und ich hoffe doch, du hälst uns über diesen Blog und über Twitter auf dem Laufenden.

  • #2

    Daniel (Freitag, 28 Juni 2019 23:38)

    Hallo. Vielen Dank für den spannenden Artikel und die Erwähnung.

    Vielleicht wäre ja eduScrum eine spannende Methode, um mit den Referendar*innen in einem am agilen Kompass ausgerichteten Vorgehen die neuen Prinzipien gleich direkt erlebbar zu machen. Wir können gerne mal dazu sprechen, wenn du möchtest.

    Außerdem will ich mich nicht mit fremden Federn schmücken. In meinem Blogbeitrag weise ich auch darauf hin: wir haben in einer eduScrum Deutschland Gruppe gemeinsam mit unter anderem Willy Wijnands den auch von ihm mitentwickelten englischen Kompass übersetzt und überarbeitet. Ich war Teil des Teams für die Überarbeitung, nicht der alleinige Urheber.

  • #3

    Kirstin Bubke (Freitag, 17 Januar 2020 15:57)

    Vielen Dank für die spannenden Gedanken! Den Weg der agilen Seminardidaktik wollen wir bei der Neugestaltung der überfachlichen Ausbildung (Kernseminar) einschlagen und hoffen auch auf den beschriebenen Effekt im pädagogischen Doppeldecker!